Augengrauen
(Für Michaela)
Norbert war Geschäftsführer eines Drive-In-Burgers am Rande der Stadt. Jasmin arbeitete neben ihrem Studium als Traffic-Girl in einer Werbeagentur. Sie begegneten sich bei Werbeaufnahmen im Schnell-restaurant und waren sofort unsterb-lich ineinander verliebt. Oder verlieb-ten sie sich erst später? Kurz nach Eröffnung des neuen Fitnesscenters? Im nachhinein ist es oftmals schwie-rig, genau zu sagen, wann der Blitz einschlug:
Also, es geschah entweder im letzten Sommer, bei einem Fototermin im Schnellrestaurant, als Jasmin mit vollem Tablett über ein Scheinwerfer-kabel stolperte und Norbert nicht rasch genug ausweichen konnte. Oder kurz darauf, im September, in der Sauna des Fitnesscenters, als eine schmerbäuchige Frohnatur versuchte, Jasmin mit zweideutigen Scherzen zu beeindrucken, bis ihn Norbert, in seiner überlegen Art, des Schwitzraums verwies. Andrerseits könnte es auch an einem reg-nerischen Novembertag geschehen sein, als mitten im Berufsverkehr, mitten in der Rathausgasse, der linke Vorderreifen von Jasmins Ente seine Füllung aushauchte und Norbert gerade seinen neuen Landcruiser ausprobierte.
Oder beim Ikebanaseminar, Anfang Dezember, zu dem Norbert ohne Retasu erschien. Oder kurz vor Neujahr... ach, es gab so viele Gelegenheiten und wen interessiert schon das Datum, wenn die Liebe im Spiel ist?
Fest steht jedenfalls: Norbert und Jasmin liefen sich im letzten Jahr ständig über den Weg und irgend-wann hat es dann halt gefunkt. Norbert gefiel die lebhafte, unbe-schwerte Art Jasmins. Wie sie Grimassen schnitt und mit den Hän-den gestikulierte, während sie von Urlaubserlebnissen in Kenia erzählte. Ihre Manier, beim Ergreifen der Capu-ccinotasse den kleinen Finger abzu-spreizen fand er einfach zauberhaft.
Jasmin wiederum faszinierte das seriöse, ja englische Auftreten Nor-berts unter dessen solariumge-bräunter Oberfläche sie eine unterschwellige Brutalität verspürte. Als er ihr erzählte, wie er den paki-stanischen Scrubber zusammen-gestaucht hatte, weil dieser kulturlose Kretin zum Säubern des Pissoirs und der Aschenbecher denselben Lappen benutzte; beim Geständnis seiner Angewohnheit, den Mädels an der Theke morgens, zur Aufmunterung, auf den prallen Po zu klatschen, da lief ihr ein wohlig, herb-
süßer Schauer über den Rücken, wie früher, kurz bevor sie von ihrem Vater verprügelt wurde.
Bald wurde ihnen jede Stunde, ja jede Minute, in der sie nicht bei-sammensein konnten, zur Qual. Schließlich verkaufte Norbert seine umfangreiche Playboysammlung an einen befreundeten Flohmarkthändler und schuf so Platz in seinem Apart-ment über dem Schnellrestaurant. Jasmin schmiss ihr Studium hin und übernahm den Job des Pakistaners. Als sie ihr Elternhaus verließ, erlitt ihre Mutter einen Nervenzusammen-bruch und musste drei Wochen zur Kur in ein Müttergenesungsheim am Starnbergersee. Ihr Vater enterbte sie auf der Stelle und gibt sich seitdem der exzessiven Ahnenfor-schung hin. "Ich will wissen von wem sie das hat!" lautet seitdem sein Credo.
Jasmin scherte das wenig. Sie war überglücklich mit Norbert in ihrem kuscheligen Nest, das beide nur noch selten verließen. Eigentlich nur noch dienstagabends, wenn sie um halb Acht, eng umschlungen, zu "Luigi´s" schlenderten. Luigi, mit bürgerlichem Namen Silvester Wurmbichler, hatte sich vor fünfzehn Jahren in der Stadt niedergelassen und "Luigi's Pizza-Stadl" eröffnet.

Zuvor besaß er eine Imbissbude am Dortmunder Hauptbahnhof, welche er aber, wegen eines kleinlichen Streits mit der dortigen Gesundheitsbehörde, schließen musste. Hauptsächlich ging es dabei um die Frage ob, und wenn ja wann, Frittieröl zu wechseln sei. Aber was kann der kleine Mann schon machen, wenn sich eine kleinkarierte Behörde stur stellt?
In den vergangenen fünfzehn Jahren hatte sich sein Restaurant zum Ge-heimtipp unter den "Italienkennern" der Stadt und der näheren Umgebung gemausert. Nirgends schmeckten die "Cozze alla darsena" so sehr nach Adria wie bei Luigi. Sein kleines Lokal lag im Tiefparterre eines Einfamilienhauses. Eine kurze Treppe führte von der Eingangstür hinunter in den Gastraum. Parallel zu dieser Treppe verlief der dunkelgebeizte Tresen, an dem tagaus tagein dieselben müden Männer standen, in immer gleiche, eintönige Gespräche vertieft. Öffnete sich die Tür, so drehten sie kurz ihre Köpfe, um den neuen Gast zu mustern. Dann senkten sich ihre ausdruckslosen Gesichter wieder über die Biergläser, in deren lauwarmem Inhalt sich ihre leeren Augen spiegelten. Links neben der Theke klebte ein offener, ziegeltapezierter Kamin an der Wand, in dem ein paar Buchenholzscheite aus Kunststoff die elektrische Illusion von anheimelnder Wärme erzeugten.

Von der nikotingelben Decke hingen verstaubte, muschel- und seestern-verzierte Fischernetze. Im Verein mit dem Dunst von altem Olivenöl und dem Geruch von selten geleerten Aschenbechern versetzten sie den Gast sofort zurück in jene roman-tische Hafentaverne, damals, in diesem verregneten Sommerurlaub, am Strand von Volos.
Hinter dem Tresen führte eine dunkel gebeizte und zerkratzte Tür mit Durch-reiche in die Küche, in Luigis Reich. Dort herrschte er seit nunmehr fünfzehn Jahren. Fünfzehn Jahre, von denen ihm jede Sekunde eine Qual war: Ihn quälte die Hitze des Pizza-ofens, ihn marterten der Geruch von Muscheln und Knoblauch - überhaupt die Ausdünstungen der gesamten italienischen Küche, die ihm schon seit seiner Kindheit in Bozen Übelkeit verursachten. Ihn peinigte der bloße Gedanke an seine Gäste - damit meinte er nicht die Männer an der Theke. Die hüteten sich, sein Essen zu probieren und waren mit lauwar-mem Bier zufrieden. Manchmal gaben sie ihm sogar das Gefühl, er währe wieder zuhause in Dortmund. Beson-ders wenn sie leidenschaftlich über absolute Nichtigkeiten stritten, zum Beispiel wie man rechts- von linksge-drehtem Joghurt unterscheidet und wozu das überhaupt gut sei?
Aber diese "Italienkenner" die sein Lokal aus ihm unerfindlichen Gründen
von Anfang an in ihr Herz geschlos-sen hatten. Diese aufgeblasenen Typen in ihren Ginelli-Sakkos und Armani-Slippern. Dümmlich girrende Weiber im Schlepptau, stapften sie breitbeinig die Treppe herunter und brüllten dabei ein gellendes "Buona Serrrra, Luigi!" durch die Durchreiche in die Küche. Luigi lief es dabei immer eiskalt den Rücken runter. Beim Essen machten sie ein Geweste um seine Muscheln. Wie toll die doch wären, so authentisch und ob er ihnen nicht sein Rezept verraten wolle?. Luigi zuckte dann immer mit den Achseln: "Nix värrrstehn!" Und schlurfte gegeißelt von ihrem Geläch-ter in die Küche zurück, wo er der Altölbüchse unter der Spüle einen Tritt verpasste.
Vollends unerträglich war sein Leben seit diesem verfluchten Dienstag im November (Oder war es Dezember?) geworden, als Norbert und Jasmin zum erstenmal, um halb Acht, sein Lokal betraten. Jenem zweimal verfluchten Dienstag, an dem er die Ratten im Lagerraum neben der Küche entdeckte, mit denen er sich seitdem einen gnadenlosen Krieg lieferte. Jenem dreimal verfluchten Dienstag , an dem ihm dieser hinterhältige Fischhändler garantiert frische Muscheln aus Pescara andrehte, welche noch immer in seinem altersschwachen Kühlschrank vor sich hingammelten.
Seither begann er jeden Dienstag kurz vor halb Acht zu zittern. er wurde so nervös, dass er seine Arbeit unterbrechen musste und nur noch durch die Durchreiche auf die Eingangstür starren konnte. Er wartete darauf, dass die Tür sich öffnete und Norbert und Jasmin erschienen. Beide engumschlungen und grinsend wie Honigkuchenpferde. Während Norbert die Treppe hinuntertänzelte schleuderte er Luigi immer ein "MUOLTO Buona Serrrrra, Luigi!" ins Gesicht. Hinterdrein stöckelte Jasmin, das rosa Handtäschchen mit verschränkten Händen fest an den runden Busen gepresst, und unterstütze Norberts Auftritt mit einem girrenden Lachen, dass sich anhörte, als würde man einer lungenkranken Stute rhythmisch die Kehle zupressen. Dieser Vorgang ging Luigi jedes Mal durch Mark und Bein und sein Mund verzog sich vor Schmerz.
Immer verlangte Norbert, in schauderhaftem Pidginitalienisch, "ihren Tisch" gegenüber vom Kamin. Mit Kerze! Jedes Mal studierten beide intensiv seine in vergilbtem Plastik eingeschweißte Speisekarte. Jedes Mal bestellte er hernach das immergleiche Essen: "Lasagne al forno" und eine Karaffe Chianti für Jasmin; "Spaghetti amatriciana" und ein Weißbier - mit Zitrone! - für sich. Und immer schloss er seine Bestellung mit dem "scherzhaften" Verlangen nach einem sauberen Glas, falls gerade eines zur Hand wär. So laut,
dass es Luigi in der Küche hören musste, auch wenn der elektrische Büchsenöffner auf Hochtouren lief. Jeden Dienstag kurz vor halb Acht spürte Luigi, wie sich sein Magengeschwür wohlig räkelte.
Für Norbert und Jasmin war "Luigi´s Pizza-Stadl" der Inbegriff von Bella Italia, das zu sehen ihnen leider ver-wehrt war. Jasmin wurde sofort reisekrank wenn sie sich mit mehr als 50 km/h bewegte und Norbert wollte seinen Landcruiser nicht den Unbillen jenseits der Alpen aussetzen. Luigi´s war ihr Stammlokal, seit sie dort im letzten Jahr, vor einem fürchterlichen Novembergewitter - vielleicht war es auch Dezemberschneegestöber- Zuflucht gesucht hatten. Seitdem starteten sie jeden Dienstag, kurz vor halb Acht, zu ihrem "kleinen Aus-flug in die Toscana". Wenn sie das Lokal betraten und Luigis Kopf in der Durchreiche erschien, begrüßte ihn Norbert, unterstützt vom charman-testen Lächeln Jasmins, mit einer Herzlichkeit, wie sie nur unter ver-wandten Seelen entsteht und Luigi antwortete ihnen mit einem kom-plizenhaften Grinsen. Immer wurde der Tisch gegenüber vom Kamin für sie freigehalten und mit einem Lächeln, das nur für sie reserviert war, eilte die Bedienung herbei und zündete die Kerze an, wobei sie sich soweit über den Tisch beugte, dass Norbert ausgiebig Einblick in ihr tiefes Dekollete nehmen konnte. Sie hörte aufmerksam zu, wie Norbert, nach intensivem Studium der
so herrlich rustikalen Speisekarte, in flüssigem Italienisch (mit einem zau-berhaften toscaninischen Akzent) die Bestellung aufgab. Zum Schluss lächelte sie immer etwas verlegen und Norbert ließ sich väterlich herbei, die Bestellung auf Deutsch zu wie-derholen. Danach beendete er das Ritual immer mit diesem köstlichen Scherz, dass er doch bitte sein Weißbier in einen sauberen Glas haben möchte, falls Luigi gerade eines zur Hand hätte. Alle drei lach-ten sie dann herzlich und selbst Luigi ließ aus der Küche sein Meckern hören.
So geschah es auch am letzten Dienstagabend: Nachdem das Mäd-chen die Getränke gebracht und Norbert und Jasmin daran genippt hatten, stützten sie beide die Ge-sichter in die Hände, schauten sich in die Augen und konnten -wieder-einmal- ihr Glück kaum fassen. Jasmin suchte mit ihrem Schenkel Norberts Knie und rieb sich daran. Norbert spürte das elektrische Knistern ihrer schwarzen Nylonstrumpfhose an seinem Trevirabein und ein warmes, kribbeliges Gefühl wuchs in seinen Lenden und begann das Rückgrat hochzukrabbeln. Spontan ergriff er ihre Hand, das Reiben ihrer Schenkel verstärkte sich, ihre Blicke ver-schmolzen ineinander, ihre Zun-genspitzen zuckten verlangend über die Oberlippen und mit unbändiger Kraft befiel beide das Verlangen sich, hier und jetzt, gleich auf dem Tisch, oder darunter, einander hinzugeben.
In diesem Moment wurde ihr Essen gebracht. Mit einem verlegenen Lächeln nahmen sie ihre Teller in Empfang und wie immer zögerte Jasmin noch einen Augenblick, während sich Norbert sofort mit einem zufriedenen Grunzen an die Arbeit machte. Gebannt schaute sie auf seine schlanken Hände, welche geschickt die Nudeln auf die Gabel wickelten. Seine unglaubliche Fingerfertigkeit ergötzte sie jedes Mal aufs Neue.
Als Norbert nach seinem Weißbier griff, um einen Knorpel hinunterzuspülen, trafen sich ihre Blicke. Dampf stieg von Jasmins Lasagne auf, strich wie Nebel über ihr Gesicht und verwischte die Konturen. Ihr linkes Auge schien Norbert auf einmal wie ein tiefer Brunnen, das rechte wie der Anfang eines langen, schwarzen Tunnels, beide getrennt durch den scharfen Felsengrat des Nasenrückens. Alles um ihn herum wurde allmählich unscharf, nur Jasmins Augen wurden immer deutlicher. Er vermeinte die Reflexe von dunkelgrünem Wasser im Linken zu erkennen. Im Rechten erblickte er drei, rasch größer werdende Lichtpunkte. In seinem linken Ohr vernahm er ein dumpf hallendes Glucksen, in seinem rechten die Geräusche eines D-Zuges. Immer drängender wurde die Kraft, die von diesem Bild ausging. Stählerne Haken bohrten sich in seine Schläfen und
zerrten daran. Eiskalte Angst wuchs in seinem Herzen. Sein Mund war wie ausgedörrt, die Kehle zugeschnürt, sein Kopf dröhnte. Eine unbestimmte Panik wurde schlagartig zur schrecklichen Gewissheit: Entweder würde er im linken Auge ertrinken oder im rechten von stählernen Rädern zermalmt. Ein unmenschlicher Schrei entrang sich seiner Kehle, er sprang auf, und während ihr Tisch scheppernd seine Last auf die orangen Bodenfliesen erbrach, schleuderte er sein Weißbier der Bedrohung entgegen. Mit verzerrtem Gesicht sprang er über die Reste ihrer Zweisamkeit hinweg, stolpernd hastete er die Treppe hoch, röchelnd riss er die Tür auf und entfloh mit einem hysterischen Lachen in das Purpurrot des Sonnenuntergangs. Das Weißbierglas wie eine Keule über dem Kopf schwenkend.
Jasmin war wie gelähmt. Weißbier tropfte von den gespaltenen Spitzen ihres Haars, sammelte sich am Rande ihrer Augenbrauen und zog, vermischt mit Lidschatten, in violetten Rinnsalen über ihre bleichen Wangen. Noch immer hatte sie die Ellbogen angewinkelt, noch immer hielten ihre zierlichen Hände das Besteck, noch immer war ihr Blick auf die Stelle gerichtet, wo Norberts Hände ihren Augen Halt und ihrer Seele Glück beschert hatten. Plötzlich wandelte sich die Starrheit ihres Gesichts zur schmerzverzerrten

Fratze. Sie legte den Kopf weit in den Nacken. Ihr Brustkorb blähte sich auf, die Knopflöcher ihrer Bluse spannten sich ächzend: "Oh verdammte Scheiße!" kreischte sie der netzbehängten Decke entgegen. Unbeholfen warf sie das Besteck gegen die Wand und barg ihr Antlitz in den Händen. Die Schultern zuckten krampfhaft und lautes Schluchzen erfüllte das Lokal. Müde betrachteten die Männer am Tresen kurz die Szenerie. Mit einem schmutzigen Lappen in den Händen sprang die Bedienung Jasmin zur Hilfe. Auch Luigis geröteter Kopf erschien in der Durchreiche. Schweißglänzend klebte das spärliche Haar an seinen Schläfen, eine erloschene Zigarette zuckte im linken Mundwinkel. Mit einem verächtlichen Blick musterte er das Geschehen und schmallippig grinsend wandte er sich wieder seinen Pfannen zu. Also war das Zeug, das ihm gestern dieser niederbayerische Düngemittel-vertreter zur Begleichung seiner Spielschulden überlassen hatte, doch ganz brauchbar. Die Ratten sahen grausigen Zeiten entgegen!

Martin Jäger 1991